The Nokturnal Times: Rückblicke, Bilanzen, Epitaphe -- sie alle müssen ihn verfehlen, den Geist von 68, auch 40 Jahre danach. Vor allem die ehemals Beteiligten, die heute doppelt so alt sind, wissen meist nicht mehr , wovon sie reden. Glücklicherweise gibt es Kameras und Fernsehsender. Selbst ein bescheidenes Dreiviertelstündchen-Interview bewahrt und verrät heute mehr von jener Zeit als ganze Bände voller Reminiszenzen.
Günter Gaus mit Rudi Dutschke, im Dezember 1967 in einem Studio des Südwestfunks -- kein Schmuck, kein Trick, keine Musik, die Sendung lebt vom Wort und lebt bis heute kraftvoller als sämtliche Talk-Shows eines ganzen Jahres. Das liegt nicht nur daran, dass hier zwei Leute miteinander sprechen, die was zu sagen haben, sondern dass das Wort, noch nicht entwertet durch televisionäre Redeflut, den Interviewpartnern selbst etwas gilt.
Hier werden keine Worte verraten, weil ja Fernsehsekunden teuer sind und deshalb gekrallt
werden müssen, sondern Worte werden gesucht und sorgsam geformt. Hier wird erörtert --
mit Feuer und Konzentration. So etwas gibt es im Fernsehen nicht mehr.
Gaus, selbst ja damals noch nicht alt, aber „etabliert" interviewt in Dutschke die junge
Generation, die „so" nicht mehr weitermachen will. Aber Gaus kennt die Welt nur „so", und
er ist nicht fähig, sie sich anders zu denken. Das Interview lebt von der Spannung, dass beide
Mühe haben, einander zu verstehen, es aber unbedingt wollen. „Wer führt Ihre Bewegung?"
fragt Gaus, und Dutschke sagt: „Die Menschen führen sich selbst." -- „Wie verhindern Sie
Minderheiten-Terror?" — „Wir werden Mehrheit, oder wir scheitern." -- „Sie werden
Gefängnisse brauchen . . ., KZs ..." -- „Es hängt vom Willen der Menschen ab, ob sie
zur Freiheit finden. Wir können eine Welt gestalten, wie sie die Welt noch nie gesehen
hat." Während Gaus durch jede Rebellion die noch unreife Demokratie der Bundesrepublik
gefährdet sieht, erscheint Dutschke diese Demokratie mürbe und faul. „Sind Sie
antiparlamentarisch?" -- „Ja, weil die wirklichen Bedürfnisse der Menschen im
Parlament nicht vorkommen."
"Kann der Mensch die Geschichte selbst in die Hand nehmen?", fragt Günter Gaus den
Rudi Dutschke in einem in der Zwischenzeit als "legendär" verstandenen Fernsehinterview
vom 3. Dezember 1967 und Rudi Dutschke antwortet, ohne lange zu überlegen: "Er hat sie
schon immer gemacht. Er hat sie bloß noch nicht bewusst gemacht. Und jetzt muss er sie
endlich bewusst machen."Ein denkwürdiges Interview, welches Günter Gaus mit dem
damaligen Studenten Rudi Dutschke führte. Rudi Dutschke, Jahrgang 1940, Mitglied de
r sozialistischen Studentenbewegung, nimmt Stellung zum parlamentarischen System, zu den
Instrumenten der "Herrschaft", zur NPD, zur Nato und zur Religion. Dagegen setzt er seine
Vorstellungen einer freien Gesellschaft: Organisationen ohne Berufspolitiker, ohne "Apparat",
bewusste Kontrolle der Geschichte durch die Menschheit. Günter Gaus stellt Fragen zur
sozialistischen Studentenbewegung und zu Dutschkes Revolutionsbegriff.
Rudi Dutschke galt als herausragende Persönlichkeit der deutschen 1968er-Bewegung.
Der Soziologiestudent engagierte sich als Mitglied des Sozialistischen Studentenbundes
(SDS) gegen die große Koalition von CDU/CSU und SPD. Er faszinierte durch rhetorische
Fähigkeiten und eine ausgeprägte ideologische Festigkeit.
Er nahm am Hungerstreik für den festgenommenen Kommunarden Fritz Teufel teil und beteiligte
sich an einer öffentlichen Diskussion mit dem Sozialwissenschaftler Herbert Marcuse. Dutschke
gestaltete auch die Anti-Springer-Kampagne mit, die die Enteignung des Verlagshauses von
Axel Springer zum Ziel hatte, dessen umstrittener Boulevard-Journalismus als Haupthindernis
für gesellschaftliche und politische Erneuerungen galt. Doch distanzierte sich Dutschke klar von
terroristischen Anschlägen, die er als "Zerstörung der Vernunft" bezeichnete. Von einem
Attentat, bei dem er 1968 verletzt wurde, erholte sich der unbequeme Intellektuelle nie:
Dutschke verstarb mit nur 39 Jahren an den Spätfolgen.
Sozialismus
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